Aggressive emotionale Nacktheit

Vor einigen Tagen entdeckte ich in einem Laden für witzige und außergewöhnliche Tassen, Becher und Untersetzer eine Kachel, auf der einige weiße Schafe, ein schwarzes Schaf und ein nacktes Schaf abgebildet waren. Mich faszinierte diese Kachel sofort, ich wusste nur nicht gleich, warum. Die weiße Herde, klar, das schwarze Schaf, klar. Aber das nackte Schaf hatte eine besondere Bedeutung. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ein Herdenmitglied hat mir einmal versichert, dass für es eine Beziehung zu mir eine solche aggressive emotionale Nacktheit, wie ich sie an den Tag lege, nicht beinhaltet. Mit anderen Worten: Es ginge eventuell schon eine Beziehung mit mir ein, wenn ich doch gefälligst nicht ständig meine Gefühle zeigen würde.
Dieses Herdenmitglied hat Pech gehabt. Meine aggressive emotionale Nacktheit gehört zu mir wie die schwarze Fellfarbe, sie ist sozusagen ich selbst in geschorenem Zustand. Ich bin, wie ich bin.
Jedes Schaf gerät einmal in die Situation, geschoren worden zu sein und nackt dazustehen. Gerade dann ist die Wärme untereinander besonders wichtig. Nicht gewärmte nackte Schafe neigen dazu, aggressiv herumzublöken. Die gewärmten Schafe verdrängen dies, um nicht selbst zu frieren.

Hier ist die Kachel übrigens:

Herdenbande

Das Schaf ist ein Herdentier. Aber wir wissen, es gibt Unterschiede unter den einzelnen Schafen. Schwarze Schafe neigen zur Distanz zur Herde, weiße Schafe zur Integration ihrerseits bzw. zur Ausgrenzung Andersartiger. Dass sie eigentlich alle zusammen gehören, ist weder dem einen noch dem anderen Schaf zunächst wirklich bewusst. Vielleicht erkennt das eine oder andere Schaf, ob schwarz oder weiß, dass ihm etwas fehlt, wenn ein Teil der Herde wirklich nicht mehr da ist. Die weiße Herde kann vor’m Deich abgesoffen sein, oder das schwarze Schaf ist geschlachtet worden, wer weiß. Wenn es so ist, ist es sehr schlimm für die anderen. Einfach nur traurig ist es dagegen, wenn ein Teil so tut, als existiere der andere Teil nicht, aus welchen Gründen auch immer.
Herdenmitglieder sind und bleiben immer das, was sie sind, Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Tante. Sie werden für die anderen immer da sein. Es ist unmöglich, sie einfach aus dem Gehirn zu verbannen und auf Ewigkeit zu ignorieren, egal, wie groß der Abstand zwischen ihnen auch sein mag.

Trost

Ein paar mutmachende und passende Sinnsprüche für gerade traurige schwarze Schafe:

Spricht jemand schlecht von Dir, sei’s ihm erlaubt.
Du aber lebe so, dass es ihm keiner glaubt.
Poesiealbum, Klassenlehrer in der Grundschule

Schmähungen entehren nur den, der sie sagt.

Der Adler fliegt allein,
der Rabe scharenweise.
Gesellschaft sucht der Tor,
doch Einsamkeit der Weise.
Friedrich Rückert

Es gibt kein problematisches Kind, es gibt nur problematische Eltern.
Alexander S. Neill

Gottes sind Wogen und Wind.
Aber Segel und Steuer,
dass Ihr den Hafen gewinnt,
sind Euer!
Gorch Fock

Alle Menschen sind klug; die einen vorher, die anderen nachher.

Standpunkte und Wahrnehmungen

Was ist ein Standpunkt?
Die Deichkrone, auf der man steht, sich den Wind um die Nase wehen lässt und in die Ferne sieht. Die Wahrnehmung kann Unabhängigkeit und Freiheit sein. Oder Einsamkeit und Verlorenheit.
Der Mittelpunkt der Herde. Die Wahrnehmung ist die Geborgenheit bietende Wärme der Schafleiber um einen herum. Oder das Gefühl, eingeengt zu sein.
Beides sind Standpunkte, die richtig sind. Die Wahrnehmungen sind unterschiedlich.

Um Standpunkt und Wahrnehmung in Einklang zu bringen, muss man manchmal den Standpunkt wechseln.

Grenzen setzen

Schwarze Schafe grenzen sich allein schon durch die Fellfarbe von der Herde ab. Deshalb sollte man meinen, dass schwarzen Schafen Grenzen von Haus aus bewusst sein müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur, dass sie liebend gern meist unbeabsichtigt die Grenzen anderer verletzen und damit ins Fettnäpfchen treten, sie verstehen es auch nur schlecht, anderen gegenüber Grenzen für sich selbst zu setzen.

Da schwarze Schafe sich von der „Herdengesellschaft“ abheben, stehen sie im Fokus derselben. Die Herde stört das und versucht, die ungeliebten Mitschafe zu integrieren. Die schwarzen Schafe werden in die Anonymität der Herde gedrängt, um sie zu verstecken. Weil auch das schwarze Schaf das Bedürfnis hat, zu einer Gruppe zu gehören, lässt es dies zunächst über sich ergehen, weil es Angst hat, allein zu sein. Dieses Harmoniebedürfnis steht jedoch stark mit dem Autonomietrieb des schwarzen Schafes in Konflikt. Es erkennt bald, dass die Herde es nicht um seiner selbst willen akzeptiert, sondern daran Bedingungen knüpft. Es hat immer schön im Konsens zu mähen, die ungeschriebenen Gesetze einzuhalten, sich sagen zu lassen, wo es zu grasen hat, sich blöken zu lassen, welche Richtung gegangen wird. Tut es das nicht, wird mit Liebesentzug gestraft, Schuldgefühle werden eingepflanzt.

Wenn es endlich erkennt, dass es sich so nicht mehr erpressen lassen will, muss es jetzt gegenüber den anderen Schafen Grenzen setzen, um zu überleben. Der Satz „Ich will das nicht!“ sollte anfangs reichen. Lassen sich vor lauter von der Herde eingenommenem Terrain keine Grenzen mehr setzen, hilft nur noch, sich mit einem Rundumschlag zu befreien, also, Kopf ‚runter und ab durch die Herde! Die wird natürlich perplex und hochgradig beleidigt sein, aber sie hat jetzt ihre Chance, ihr eigenes Verhalten zu überdenken. Ob sie das wohl tut und etwas dabei heraus kommt?

Von Mutter- und Tochterschafen

Das Mutterschaf ist häufig gegenüber dem Tochterschaf bedürftig. Es hat selbst keine Anerkennung und Liebe durch sein eigenes Mutterschaf erfahren und versucht nun, diese vom Tochterschaf zu bekommen. Dem Tochterschaf ist das natürlich überhaupt nicht bewusst, denn die Beziehung zum Mutterschaf hat sich nach dem Erwachsen werden deutlich stabilisiert. Man kommt im großen und ganzen gut miteinander aus.

Das ändert sich aber, wenn das Tochterschaf selbst ein Lämmchen bekommt. Das Mutterschaf sieht sich plötzlich in einer Konkurrenzsituation mit dem Lamm. Das Tochterschaf wendet seine ganze Aufmerksamkeit seinem Lämmchen zu und somit von dem Mutterschaf ab. Deswegen versucht das Mutterschaf, das Enkellamm emotional zu vereinnahmen, um hier wieder Aufmerksamkeit zu erlangen. Das Tochterschaf empfindet das als massive Einmischung und geht auf Distanz. Das Mutterschaf erpresst das Tochterschaf daraufhin emotional, in dem es ihm Schuldgefühle einflößt, z.B. mit solchen Aussagen wie: „Ich habe doch so viel für dich getan!“ oder „Das kannst du doch deiner Mutter nicht antun!“. Dies ist eine extrem böse Falle für das Tochterschaf. Es muss sich an dieser Stelle entscheiden, ob es die Erpressung zulässt, um weiterhin zur Herde zu gehören, oder aber zum schwarzen Schaf zu werden, um seinen eigenen Seelenfrieden zu retten und sein Lamm vor der Vereinnahmung durch das Mutterschaf zu schützen.

Für das Tochterschaf ist es sehr schwer, diese Falle überhaupt zu erkennen. Denn sie zu erkennen heißt, der schmerzenden Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die da heißt: „Dein eigenes Mutterschaft kann dir keine Zuwendung, Anerkennung und Liebe geben, es will Zuwendung, Anerkennung und Liebe von dir, und wenn es sie nicht bekommt, straft es dich durch Missachtung und Abwertung.“

Manche Tochterschafe erkennen das früh, andere später, manche nie. Die frühen sind noch am besten ‚dran und können rechtzeitig Grenzen setzen, was schwer genug ist. Die späten haben ein Problem, denn sie haben jahrelang die Einmischung zugelassen und müssen nun auf einmal Grenzen setzen, was sie nie getan haben. Häufig hilft nur noch eine Trennung, zumindest auf Zeit. Es ist fraglich, ob das Mutterschaf dann noch etwas begreifen wird. Die, die es nie erkennen, werden sich nicht von ihrem Mutterschaf lösen können, so bitter es auch ist, sogar bis über den Tod des Mutterschafes hinaus.

O Fortuna, velut Luna statu variabilis,
semper crescis aut decrescis.